'Wahre Geschichten aus dem Mittelalter' und 'Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters'
Arnold Esch
Die Plünderung Roms im Sommer 1527 – als „Sacco di Roma“ ging das Treiben kaiserlicher Landsknechte und anderer Söldner in die Geschichtsbücher ein – ist ja eigentlich in allen Details bekannt. Und doch kann man auch heute noch neue Facetten entdecken, wie beispielsweise die Bitte eines deutschen Landsknechts um Absolution. Andreas Dul de Hattimhoff, Priestersohn und selbst Kleriker aus der Diözese Konstanz, berichtet uns von den schrecklichen Zerstörungen, den Massakern und den Vergewaltigungen, die sich eben so ergaben bei den verschiedenen Kriegszügen, die er mitgemacht hatte. Auch in Rom war er natürlich mit dabei – wohl vielleicht auch 1525 in Pavia – wobei er allerdings selbst gar niemanden getötet hat. Sagt, beziehungsweise schreibt er in seinem Brief, mit dem er nur wenige Wochen nach dem Sacco um Absolution bittet. Die brauchte er nämlich, weil er ja nun nach seinem Dasein als Landsknecht doch lieber wieder Priester sein wolle. Und: Er bekam sie auch, die Absolution. Von jenem päpstlichen Amt, das dafür zuständig war, und auch heute noch ist. Die „Sacra Paenitentiaria“, die „Apostolische Pönitentiarie“, ein Art kurialen Gnadenhofs. An den wendet sich der Mensch des Mittelalters, wenn er ein schlechtes Gewissen hat – oder auch für den Fall, dass man sich beispielsweise für ein Kirchenamt nicht geeignet sieht. So, wie es unserem Landsknecht erging, der auf dem Weg zur Priesterweihe einen Dispens braucht. Weil er nämlich auf dem Schlachtfeld war, ist er vom Empfang der heiligen Weihen ausgeschlossen. Das muss geklärt werden. Die Pönitentiarie ist aber nicht nur eine dem Papst unterstellte Behörde, sondern auch eine mit einem gewaltigen Archiv. Denn all die gewährten Absolutionen und Bescheide wurden aufbewahrt – und erlauben heute einen faszinierenden Blick in die Zeit um 1500. Wenn man sich die Mühe macht, und die Archive durchforscht, wie es Arnold Esch getan hat. Um zwei seiner Bücher geht es hier. In diesen lässt er Menschen des späten Mittelalters, die sonst in keiner historischen Quelle zu Wort kämen, ihre kleinen Schicksale erzählen, den Papst um Beistand bittend. So berichtet einer, dass er beim Brand der Stadt einen alten Mann, der ihm aus den Flammen entgegenkam, in seinen Keller aufgenommen habe – um dann selber durch den Hintereingang das Weite zu suchen. Das belastet nun das Gewissen des Priesters, der sich schämt, hat er doch den Erstickungstod jenes Alten zu verantworten. Für den Priester DIE traumatische Begebenheit seines Lebens. Arnold Esch – er ist Professor für Mittelalterliche Geschichte und war bis zu seiner Emeritierung Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom; 2011 erhielt er zudem den „Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa“ – hat aus Schreiben an den Papst ganze Lebenswelten mittelalterlicher Menschen freigelegt. Dabei liegt sein 2010 erschienenes Buch zu den Fällen aus Deutschland und den Grenzgebieten des Reichs seit 2012 auch als Taschenbuch vor: „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst“. Kürzlich erschien nun mit „Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters“ eine Abhandlung jener Schreiben aus den weiteren europäischen Ländern. Von Portugal bis Finnland, von Schottland bis Sizilien. Und natürlich geht es auch hier wieder sehr menschlich zu, geht es um Liebe und Tod, Krieg und Pest, Condottieri und Piraten, Pilgerfahrten und Hexenritte. Beide Bücher geben einen mehr als lesenswerten Überblick zu den Lebenswirklichkeiten jener Zeit. Denn anders als in der „großen“ Geschichte kommen in den Archiven der Apostolischen Pönitentiarie die „kleinen“ Leute zur Sprache, die wiederum aus ihrer Augenhöhe zu berichten wissen. Immerhin haben sie sich zu rechtfertigen – und das führt zu mitunter weit ausschweifenden Erklärungen. Wie es zu dem Unfall auf der Baustelle kam, zum Streit beim Kartenspiel, zum tragischen Unglück beim Bogenwettbewerb: Arnold Esch hat so manches interessante Detail für uns: ob erste Liebe oder der nicht ganz freiwillige Eintritt ins Kloster, Geldschwierigkeiten oder eine Schlägerei im Wirtshaus, das Scheitern einer Ehe oder die unerfreuliche Begegnung mit Räubern auf der Landstraße. In seinen elegant erzählten Stücken wird das Mittelalter einmal aus allernächster Nähe betrachtet und gerade dadurch ungewöhnlich anschaulich und lebendig. Übrigens – die Apostolische Pönitentiarie ist noch immer erste Adresse, wenn es um kirchliche Dispense oder Absolutionen geht. Der Bußgerichtshof residiert an der „Piazza della Cancelleria 1“, 00186 Roma, Italien …
Arnold Esch: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. Verlag C.H. Beck München 2014, 544 Seiten, geb. mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 35 Abbildungen, ISBN 978-3-406-66770-1, 29,95 Euro. Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. Verlag C.H. Beck München 2012, 223 Seiten, Taschenbuch, 25 Abbildungen, ISBN 978-3-406-63095-8, 12,95 Euro.
Autor: Heiko P. Wacker