Mythen Europas
Schlüsselfiguren der Imagination
Inge Milfull und Michael Neumann (Hrsg.)
Schon immer neigten die Menschen dazu, wichtige historische Ereignisse mit bestimmten Persönlichkeiten zu verknüpfen – um auf diese die Hoffnungen und Wünsche, die Ängste und Sorgen des Daseins zu projizieren. Meist wurden auch zahllose Anekdoten und Mythen gesponnen, die zwar mit der Realität nicht immer viel gemein hatten – aber doch geeignet sind, im Sinne einer kollektiven Erinnerung tiefen Einblick in die jeweilige Epoche zu geben. Denn letztlich ist es überaus interessant zu sehen, was genau die Faszination bestimmter historischer Figuren ausmachte – und worin sich der Erfolg solcher ‘Schlüsselfiguren der Imagination’ begründete.
Dieser Frage geht derzeit eine Vortragsreihe der Katholischen Universität Eichstätt nach, die sich von Semester zu Semester in der Zeitschiene der Geschichte voranbewegt, um anschließend in gedruckter Form ein letzten Endes siebenbändiges Gesamtwerk zu füllen. Nach dem ersten Band, der der Antike gewidmet war, erschien nun der Titel zum Mittelalter, an dem unter anderem Roswitha Wisniewski mitwirkte, die in Heidelberg als Professorin für Ältere deutsche Literatur tätig ist. Ihr Beitrag widmet sich unter dem Titel ‘Maria, Notre Dame’ dem Mythos Maria und ihrer Verehrung in Texten des 9. bis 13. Jahrhunderts. Immerhin handelt es sich bei der Gottesmutter um eine der zentralsten Figuren des christlichen Glaubens. “Namen wie ‘Unsere liebe Frau’, ‘Notre Dame’ kennzeichnen ihre überragende Stellung und die vertrauende Hochachtung, die sie bei den Menschen erfährt.” Um die Bedeutung des Anteils Marias am christlichen Glaubensleben zu erklären, verweist die Autorin auf eine gerne zitierte Feststellung des Theologen Karl Rahner: “Die Geschichte der Marienverehrung ist die Geschichte des Wachstums des Glaubensbewusstseins der Kirche.”
Im Anschluss daran wendet sich Roswitha Wisniewski einer fundierten Darstellung Marias in den Evangelien zu, die den ‘Mythos Maria’ begründeten. Sehr genau untersucht die Autorin hierfür die entsprechenden Quellen, und stößt den Leser immer wieder auf interessante Sachverhalte, wie es das Beispiel der überlieferten Zustimmung Marias zu ihrer Empfängnis verdeutlicht. Maria selbst gibt mit den Worten ‘Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du gesagt hast’ (Lukas 1, 26-38) ihre ausdrückliche Zustimmung, was Roswitha Wisniewski als ein ebenso starkes wie bedingungsloses Votum für den Glauben sieht – welches Maria zum eifrig bekennenden Vorbild macht, und ihre heilsgeschichtliche Stellung deutlich markiert. Im 12. Jahrhundert dann, als das Abendland von einer heute nur schwer nachvollziehbaren Welle religiöser Begeisterung erfasst wurde, wandelte sich das Bild, wurde Maria “als Braut Gottes gesehen und als Vorbild für gottgeweihte Jungfrauen wie für verheiratete und verwitwete Frauen, die sich dem klösterlichen Leben geweiht haben, und schließlich als Leitbild für alle Menschen, die ein Gott wohlgefälliges Leben führen wollen.”
Und es waren nicht wenige Menschen des Mittelalters, die der Schutzheiligen des Reiches nacheiferten. Zudem wurde die Marienverehrung seit dem 12. Jahrhundert auch in der deutschen Dichtung spürbar. So versucht beispielsweise das um 1140 entstandene Arnsteiner Marienlied – eine der ältesten deutschsprachigen Mariendichtungen überhaupt – “das Geheimnis der jungfräulichen Geburt durch den Vergleich mit dem Glas zu erläutern, das unverletzt bleibt, obwohl das Licht hindurchdringt”. Man mag über solche Vergleiche denken was man will – man kommt jedoch nicht ohne sie aus, will man die Mentalität des Mittelalters – und wie sich diese veränderte – auch nur ansatzweise verstehen. Immerhin erfuhr gerade das Marienbild im Laufe der Jahrhundert eine nicht unerhebliche Wandlung. So entsprach die erhabene Gottesmutter und königliche Herrin der althochdeutschen und altsächsischen Jahrhunderte noch voll und ganz dem “Bedürfnis der Menschen in jener Zeit, die auf starke Überlegenheit und Führungskraft Christi und seiner Mutter bauten, auch um ihres Schutzes und des Sieges in der Auseinandersetzung mit dem Heidentum gewiss sein zu können”. Während der Zeit der ersten Kreuzzüge rückten dann die Symbole der jungfräulichen Gottesmutterschaft in den Vordergrund – als Argumentationshilfe gegen die Ungläubigen, während das 12. Jahrhundert ein ‘Marienleitbild’ für religiös empfindsame Menschen konstruierte.
Gerade an der Christusmutter wird die mythische Überblendung deutlich, mit der historische Figuren den jeweiligen Bedürfnissen einer Epoche angepasst wurden. Ganz ähnlich verhielt es sich auch bei den diversen anderen Persönlichkeiten, die in den weiteren Texten des interessant zu lesenden Buches vorgestellt werden. So gilt denn im übertragenden Sinn auch für Karl den Großen, Martin von Tours, Franziskus von Assisi oder Gottfried von Bouillon – den Führer des Ersten Kreuzzugs und Königs von Jerusalem, was Roswitha Wisniewski ihrem Beitrag als Schlusswort mit auf den Weg gab: “So wird in den wenigen Texten, die hier behandelt werden konnten, sichtbar, wie sehr der Mythos der Gottesmutter Maria von den Menschen der verschiedenen Epochen ihren Bedürfnissen und ihren Idealen entsprechend in ihr Leben hineingenommen wurde.”
Jede der für das Mittelalter ausgewählten Figuren stellt das Buch in ihrer überregionalen und überzeitlichen Ausstrahlung dar – ohne die Bedingungen, die ihre Faszination und ihren Mythos erst ermöglichten, außen vor zu lassen. Dabei gefällt vor allem der interessante Ansatz der Vortragsammlung, einmal weniger die Biografie bestimmter Personen darzustellen, als vielmehr ihre Wirkung, die sie in ihrer Rolle als Bedeutungsträger historischer Ereignisse und Epochen innehatten – und mitunter noch immer haben. Denn nach wie vor neigen die Menschen dazu, wichtige geschichtliche Ereignisse mit bestimmten Persönlichkeiten zu verknüpfen…
Inge Milfull und Michael Neumann (Hrsg.): Mythen Europas – Schlüsselfiguren der Imagination. Mittelalter. Friedrich Pustet Verlag Regensburg 2004, 252 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag ISBN 3-7917-1913-0
Autor: Heiko P. Wacker