Die Ehre des Scharfrichters

Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert

Joel F. Harrington

Das 16. Jahrhundert war in vielerlei Hinsicht eine Ära der Umbrüche – auch in Sachen Justiz und Strafverfolgung. Denn unruhige Zeiten, Kriege und nicht zuletzt „gartende“, also marodierende Landsknechte machten das Leben unsicher – Landesherrschaften oder größere Städte versuchten entsprechend, für die Untertanen zumindest den Anschein von Sicherheit und Ordnung zu erwecken. Leib- oder Todesstrafen waren deshalb nicht nur Spektakel, sondern öffentliche Machtdemonstration. Was aber nur ging, wenn jener, der das Schwert, das Rad oder den Strick einzusetzen hatte, seine Arbeit verstand. Womit wir bei Frantz Schmidt wären, der in seiner beruflichen Laufbahn fast 400 Menschen tötete, unzählige weitere folterte oder verstümmelte.

Ohne, dass ihm eine andere Wahl geblieben wäre.

Denn so wichtig ein gut ausgebildeter Nach- oder Scharfrichter für die frühneuzeitliche Rechtsprechung auch war, so wenig ehrbar war der Beruf. In den wiederum war die Familie Schmidt durch mehr als unglückliche Umstände gestoßen worden, als Heinrich Schmidt, Frantzens Vater, im bayrischen Hof gezwungen wurde, zwei vermeintliche Verschwörer zu hängen: Hof beschäftigte in jenem Jahr 1553 keinen eigenen Henker. Der Protest des ehrbaren Försters war zwecklos. Wollte der zufällig an jenem 16. Oktober greifbare Schmidt das Urteil nicht sofort vollstrecken, würde er selber am Galgen baumeln – auf einen wandernden Scharfrichter, wie er im 16. Jahrhundert durchaus anzutreffen war, wollte der Graf nicht warten. Also griff Heinrich Schmidt zum Strick, vollstreckte das Urteil – und verdammte somit seine gesamte Familie zur Unehrbarkeit.

Denn Henker standen weit außerhalb der angesehenen Gesellschaft: Sie galten „als käufliche, kaltblütige Killer“, waren von Ämtern, Zünften und Bürgerrechten ausgeschlossen, mussten zumeist außerhalb der Stadtmauern leben und waren doch bei einer misslungenen Hinrichtung schnell im Fokus des Pöbels, der sich ansonsten panisch vor „sozialer Ansteckung“ fürchtete. Denn schon die zufällige Berührung durch des Henkers Hand konnte zum Verlust der eigenen Ehre führen.

Die Folge waren regelrechte Henkerdynastien, gab es doch kaum Möglichkeiten, sozial mit anderen Menschen zu verkehren. Auch geheiratet wurde denn zumeist innerhalb des eigenen Umfelds, wobei selbstredend auch die Söhne kaum Chancen hatten, einen anderen Beruf zu ergreifen als eben den des Henkers.

Damit freilich wollte sich Frantz Schmidt nicht abfinden.

Und deshalb kann man seine gesamte Karriere als einen eisern verfolgten Weg zurück in die Ehrbarkeit bezeichnen – was die Existenz seiner von 1573 bis 1617 exakt geführten Aufzeichnungen erklärt, die man nicht direkt als „Tagebuch“ bezeichnen kann, auch wenn er mehr als 45 Jahre lang Buch über seine grausame Arbeit geführt und der Nachwelt damit eine höchst ungewöhnliche Quelle hinterlassen hat. Denn die einzelnen Einträge enthalten nicht nur Datum, Ort und Methode der Exekution, den Namen, die Herkunft und den Stand des Verurteilten, sondern im Laufe der Zeit auch immer mehr Angaben zu den vorliegenden Verbrechen, die zu 361 Hinrichtungen mit dem Schwert, dem Strang oder dem Rad führten, sowie zu 345 Leibstrafen, womit er „mit Ruten ausstreichen“ oder „Ohren schneiden“ meint.

Mit dem makabren Dokument, das bereits im frühen 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde, stellt sich Schmidt sozusagen selbst ein Arbeitszeugnis seiner sozusagen „von Gott gewollten“ Tätigkeit aus. Wirklich zum Sprechen bringt Joel Harrington die Aufzeichnungen jedoch erst, indem er noch weitere Aufzeichnungen, beispielsweise aus den Nürnberger Archiven, hinzuzieht.

Dabei wird die „Person Schmidt“, wird das Leben und Wirken des Henkers in vielen Facetten, aber auch in all seinen Widersprüchen spürbar. Immerhin war der Scharfrichter, wie in jener Zeit durchaus üblich, auch als Mediziner tätig. So hatte er nicht nur gefolterte Delinquenten zu heilen, auf dass diese gesund zur Richtstätte marschieren – sondern behandelte auch ganz „normale“ Mitbürger. Dass sich hier scheinbar ein Widerspruch auftut zwischen der Angst vor „sozialer Infektion“ und dem geschätzten Wissens eines Henkers mit heilenden Händen, das ist ein gutes Beispiel für den Zwiespalt, in dem der Nürnberger Scharfrichter lebte. Immerhin hätte er mit so manchem als Amulett beliebten Körperteil eines Hingerichteten gutes Geld verdienen können, während das Blut eines Enthaupteten bei Epilepsie helfen sollte.

Allerdings gab sich Schmidt alle Mühe, um bloß nicht in die Nähe schwarzen Aberglauben gerückt zu werden, und beschränkte seine Heilkünste wohl auf Aspekte wie das Einrichten von Knochen oder die Wundversorgung. Zudem bemühte sich der – immerhin sehr gut bezahlte – Nürnberger Nachrichter mit seinem vorbildlichen, gottesfürchtigen Lebenswandel um das Idealbild des emotionslosen Henkers, der alleine aus diesem Grund abstinent war, und schon damit eine Ausnahme in jener Ära großer Trinker.

Im Laufe seiner Karriere, die er mit seinen Aufzeichnungen sauber dokumentierte, gelang ihm tatsächlich der soziale Aufstieg – alleine die Nürnberger Bürgerrechte, die er erlangen konnte, sind hier ein gutes, ja regelrecht spektakuläres Beispiel.

Das Buch „Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert“ ist jedoch mehr als die Autobiographie, die zudem ohne herablassenden Voyeurismus auskommt. Es ist ein großes Fenster in die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte des 16. Jahrhunderts, das der Professor für Europäische Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee hier aufstößt. Denn so extrem das Leben eines Scharfrichters auch gewesen sein mag, so legt es doch beredtes Zeugnis ab von den damaligen Verhältnissen und Lebenswirklichkeiten.

Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters: Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert. Siedler Verlag München 2014. Originaltitel: The Faithful Executioner. Life and Death, Honour and Shame in the Turbulent Sixteenth Century (Originalverlag: Farrar, Straus and Giroux). Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, 403 Seiten, Taschenbuch, 13,5 x 21,5 cm, ISBN 978-3-8275-0021-2, 24,99 Euro.

Autor: Heiko P. Wacker